Einige Gedanken zum Mythosgebrauch im Werk von Ulrike Rosenbach

Auszüge aus einem Text von Gerhard Glüher, 1999

In vielen Arbeiten Ulrike Rosenbachs begegnen wir Figuren und Themen antiker, christologischer, heidnischer und fernöstlicher Mythologie in Form von Geschichte und Geschichten. Den Geschichtsbegriff, wie ihn die Künstlerin verwendet, müssen wir unter einem viel weiteren Gesichtspunkt verstehen, als unter einem wissenschaftlichen, obwohl der geisteswissenschaftliche Hintergrund natürlich immer mitgedacht werden muß, besonders wenn es darum geht, die Befindlichkeiten des heutigen Menschen das Thema sind. Rosenbach betreibt in weitestem Sinne eine Art der Mythenarchäologie, indem sie Orte und Plätze aufsucht, aus denen sie Zeichen und Symbole für ihre eigene Arbeit schöpft. Jedoch erkundet die Künstlerin ihre Orte nicht mit dem Ziel, reale Ereignisse rekonstruieren zu wollen, wie sie vielleicht einmal dort stattgefunden haben könnten. Sie sucht nicht nach Relikten von Dokumenten, von Beweisstücken einer einmal real stattgefundenen Geschichte, sondern nach Andeutungen und Möglichkeiten von Geschichten dieser Orte. Die Betonung liegt auf dem Konjunktiv: möglicherweise haben sich an den Orten der Ausstellung, ebenso wie den imaginären Orten der Videoarbeiten, die dargestellten Geschichten ereignet. Rosenbachs Vorgehensweise kann man als eine narratologisch angelegte Form des künstlerischen Mythengebrauches bezeichnen, wie er am Ende des 20. Jahrhunderts glaubhaft ist; vielleicht nur in dieser Form überhaupt seine Glaubwürdigkeit wiedererlangen kann. Einzig in dieser epischen Form führt die Verbildlichung mythischer Themen zu einem Erkenntnisgewinn, der den tradierten Begriff der Geschichte als Konstruktion offenlegt. Rosenbachs mythische Erzählungen sind getragen von bildlichen Sequenzen und Fragmenten, denen der gesprochene Text unterlegt ist. Vorangetrieben und geleitet wird die Inszenierung oder die Dramaturgie stets von der Suggestivkraft der Bilder. Die Themen, welche immer wieder auftauchen sind indessen beinahe archaisch zu nennen: Geschlechterdifferenz, Ikonologie von Weiblichkeit inmitten einer technisierten Welt und die ewigen antagonistischen Kräfte, symbolisiert in beinahe rituellen Bewegungsformen ihrer Performances. Der Vorgang des Erinnerns ist eine rekonstruierende Gedächtnisleistung, welche versucht, sinnstiftende Brücken zwischen die gespeicherten Fragmente zu bauen. Unser westeuropäisches, von Rationalität geprägtes Denken und Wissen zieht in der Regel den logischen Schluþ, das Kalkül und die analysierende Beweisbarkeit zur Wahrheitsfindung heran. Geschichte wird als ein Datenstrang begriffen, und die Wissenschaften suchen die Lücken im Netz der konstruierten Zusammenhänge zu schlieþen. Rosenbachs Vorgehen kann man demgegenüber als ein synthetisches betrachten, das die ganze Bandbreite möglicher Interpretationen abwägt und Chancen und Wege des Weiterdenkens öffnet. Der mythologische Werkbegriff bietet dem Leser / der Leserin (genau genommen müssen wir von einem Zuhörer/einer Zuhörerin sprechen) Zugangsmöglichkeiten zu Geschichten, die ihrem Wahrheitsgehalt gemäß natürlich nie so stattgefunden haben, aber der Hauch des Möglichen besteht immerhin. Das Vorzeitliche und vage „Damals“ erfährt in der Darstellung oder der Nacherzählung eine Transformation ins konkrete „Heute“ durch die Imaginationskraft der inneren Bilder, welche die realen Bilder Rosenbachs heraufkommen lassen.